PEG & TK als lebensverlängernde Maßnahmen bei ALS-Patienten?

Bei Patientinnen und Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) stehen im Verlauf der Erkrankung Entscheidungen für oder gegen lebensverlängernde Maßnahmen an. Der Weg dahin ist so oft problematisch, dass es wichtig ist, die Wege der Entscheidung unserer Patienten zu beleuchten. Und da spielt die Ethik eine große Rolle.

Also, schauen wir uns an, was in Bezug auf lebenserhaltende Maßnahmen bei unseren ALS-Patienten passiert.

Welche Faktoren haben Einfluss auf die Entscheidungen der Patienten? Auf wichtige Entscheidungen, die ALS-Patienten zu treffen haben. Die Entscheidung für oder gegen lebensverkürzende Maßnahmen beispielsweise, und die Entscheidung für oder gegen lebensverlängernde Maßnahmen.

Es sind neben religiösen, gesellschaftlichen und sozialen Faktoren besonders die Lebensqualität und das autonome Selbstkonzept. Das autonome Selbstkonzept ist dabei das Selbstverständnis eines Patienten von seiner Rolle als Einzelperson innerhalb eines sozialen Kontextes. 

lebensverlängernde Maßnahmen

Die zwei relevanten lebensverkürzenden Maßnahmen sind die aktive Sterbehilfe und der ärztlich assistierte Suizid. Die Maßnahmen zur Lebensverlängerung sind die PEG, die nicht-invasive Beatmung und die invasive Beatmung über eine liegende Trachealkanüle.

Bei ALS-Patienten besteht in frühen bis mittleren Krankheitsabschnitten ein ausgeprägtes theoretisches Interesse an lebensverkürzenden Maßnahmen. Gleichzeitig kommen häufig lebensverlängernde Maßnahmen zum Einsatz.

Eine Untersuchung an einer großen Zahl an ALS-Patienten an der Universität Ulm aus den Jahren 2011 und 2012 beschäftigte sich mit den Entscheidungen von ALS-Patienten zum Lebensende. Rund 60 Patienten wurden befragt und mit unterschiedlichen Verfahren zu Depression, Kognition, QoL und speziellen Fragebögen zu lebensverlängernde Maßnahmen und lebensverkürzenden Maßnahmen. Ziel war es, Hinweise zu bekommen, wie die Aufklärung und Begleitung dieser Patientengruppe verbessert werden könnte.

Zunächst schauen wir uns an, was die Patienten zu lebensverlängernden Maßnahmen ausgesagt haben.

70 Prozent sehen mindestens eine der lebensverlängernden Maßnahme positiv. 

Die nicht-invasive Beatmung (NIV) wird von mehr Patienten als möglich angesehen als eine PEG. Wobei hier ergänzt werden muss, dass bereits 39 Prozent der Befragten eine nicht-invasive Beatmung genutzt haben, aber nur 12 Prozent eine PEG.

Die invasive Beatmung über eine Trachealkanüle wird weitgehend nicht in Betracht gezogen.

Wie verhält es sich mit den Maßnahmen, die das Leben verkürzen?

Fast die Hälfte der befragten Patienten steht diesen Maßnahmen positiv gegenüber und kann sich vorstellen, sie in Anspruch zu nehmen.  

Dabei ist das Entscheidung der Befragten unabhängig von der rechtlichen Situation, also von der tatsächlichen Verfügbarkeit lebensverkürzender Maßnahmen. Es wurde nur ganz grundsätzlich nach der Entscheidung gefragt, zu einem bestimmten Zeitpunkt das Leben zu beenden.

In diesem Zusammenhang muss man den hohen Zustimmungswert aber mit der Realität vergleichen. 

Es gibt beispielsweise Zahlen aus Oregon. Dort steht ärztlich assistierter Suizid nicht unter Strafe und 57 Prozent der ALS-Patienten können sich vorstellen, diesen in Anspruch zu nehmen. Tatsächlich sterben aber nur 5 Prozent durch diese Maßnahme. Ähnliche Diskrepanzen gibt es in der Schweiz. In den Niederlanden liegt die Zahl der Toten durch Sterbehilfe hingegen bei 20 Prozent.

Man muss also dringend unterscheiden zwischen dem Wunsch nach lebensverkürzenden Maßnahmen und dem tatsächlichen Gebrauch! Eher scheint es, dass die Befürwortung lebensverkürzender Maßnahmen eher vorübergehenden Charakter hat und je nach Stimmung auch schwankt.

Der Wunsch nach lebensverkürzenden Maßnahmen scheint bei ALS-Patienten im Verlauf der Erkrankung sogar geringer zu werden. Dazu gibt es eine Langzeitbeobachtung. 

Dass ALS Patienten über lebensverkürzende Maßnahmen nachdenken ist keine Überraschung. Aber welche Faktoren sind dabei relevant?

Patienten befinden sich im Spannungsfeld zwischen ihrer sozialen Bezogenheit auf der einen Seite und ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung auf der anderen.

Die Familie ist ein wichtiges Element der sozialen Bezogenheit. Ganz konkret geht es um den Wunsch, eine Rolle für andere zu spielen, für sie relevant zu sein und Fürsorge zu erfahren. 

Bei der Selbstbestimmung sind Elemente wie Unabhängigkeit und Kontrolle verortet.

Diese beiden – die soziale Bezogenheit und die Selbstbestimmung sind unterschiedlich stark und deutlichen Schwankungen unterlegen.

Es stellte sich in der Studie heraus, dass diejenigen Patienten, die ein starkes familiäres Umfeld hatte, also eine hohe soziale Bezogenheit, lebensverkürzenden Maßnahmen tendenziell negativer gegenüber standen. Wohingegen die Patienten, bei denen die Selbstbestimmung, also zum Beispiel der Wunsch nach Unabhängigkeit eher mit dem Wunsch nach Sterbehilfe korrelierte.

Das ganze System ist dynamisch. Das Spannungsfeld wechselt. So wie Stimmungen, Einstellungen und die Laune eines jeden wechseln kann, ist bei der Entscheidungsfindung mal die soziale Bezogenheit stärker und mal die Selbstbestimmung. Mal ist der Wunsch der Familie nicht zur Last zu fallen größer beziehungsweise relevanter und mal der empfundene Kontrollverlust so stark dass ein Wunsch nach lebensverkürzenden Maßnahmen steigt.

Die eigenen ethischen und moralischen Vorstellungen, sowie die eigene Religiosität, wirken dabei direkt auf den Wunsch der Patienten nach lebensverkürzenden Maßnahmen ein. Aber auch ihr Wohlergehen liegt den Patienten  natürlich am Herzen und beeinflusst ebenfalls den Wunsch. Sehr spannend an der Studie: Kognition und depressive Episoden hatten keinen nachweislichen Einfluss auf die Entscheidung für oder gegen lebensverkürzende Maßnahmen.

Entscheidungen zu Maßnahmen werden in der Regel spät getroffen. Einige Untersuchungen zeigen, dass sie getroffen werden, wenn beispielsweise PEG oder NIV bereits erforderlich sind. 

Aber wir wissen aus anderen Untersuchungen, dass eine frühzeitige Durchführung der NIV oder der PEG in vielen Fällen einen positiven Effekt auf Lebensqualität und Prognose hat. Die invasive Beatmung kann das Leben sogar um mehrere Jahre verlängern. Eine zu spät durchgeführte PEG kann das Leben unter Umständen verkürzen. 

Natürlich ist die invasive Beatmung ein massiver Einschnitt in das Leben. Allerdings ist es eine sehr individuelle Entscheidung, ob die mögliche Verlängerung des Lebens um ein paar Jahre diese Einschränkungen rechtfertigen.

Natürlich wissen wir, dass eine früh durchgeführte PEG besser ist, der Eingriff ist bei bereits niedriger Vitalkapazität mit erhöhtem Risiko verbunden. Aber rechtfertig die bessere Verträglichkeit des Eingriffs die frühe Entscheidung für eine PEG?

In der Studie wurde die Lebensqualität (QoL) über einen Fragebogen erfragt. Apropos Lebensqualität: Was ist das? Was macht Lebensqualität aus? Macht? Zeit? Geld? Beruf? Familie? Selbstbestimmung? Ein bisschen Umwelt?

In unserer Vorstellung scheint die Lebensqualität von Patientinnen und Patienten mit ALS nicht sonderlich hoch zu sein. Aber das ist falsch! Mehrere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass die Einschätzung der Lebensqualität von ALS-Patienten durch Gesunde, sich sehr von der Eigenwahrnehmung der Patienten unterscheidet. Selbst Angehörige glauben, dass die erlebte Lebensqualität der ALS-Patienten deutlich geringer ist, als diese sie selbst einschätzen. 

Die Lebensqualität von Patienten mit ALS nimmt also nicht nennenswert ab. Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die für die Lebensqualität relevanten Faktoren verschieben. Weg von Beruf, Karriere, Selbstbestimmtheit und Finanzen hin zu Kommunikation, Familie und Mobilität. Natürlich ist die Depressivität, die mit der Erkrankung und der Krankheitsverarbeitung einher geht, hier ein limitierender Faktor. Rückhalt in der Familie kann hier aber helfen.

Buchtipp

ALS – Ratgeber für Betroffene

Fassen wir das kurz zusammen:

Die Lebensqualität hängt von der Familie, der Mobilität und der Kommunikation ab. Sie ist subjektiv höher als wir annehmen.
Die invasive Beatmung wird von der Mehrzahl der ALS-Patienten abgelehnt.

Das passt zusammen. Eine invasive Beatmung über eine Trachealkanüle schränkt die Mobilität ganz erheblich ein, macht eine verbalsprachliche Kommunikation nahezu unmöglich und stellt die Familie und das Umfeld unter erhebliche Belastung. Damit wären die letzten Faktoren der Lebensqualität weg. 

Sollten wir ALS-Patienten dann von der invasiven Beatmung abraten?

Eine medizinethische Frage!

Vielleicht kann ein Instrument uns helfen. Das bioethische Modell nach Beauchamp & Childress.

Vier Prinzipien liegen dem Modell zugrund: 

  • Die Selbstbestimmung des Patienten (Autonomie),
  • das Prinzip der Fürsorge (Benefizienz), 
  • die Forderung, dem Patienten durch die medizinische Handlung keinerlei Schaden zuzufügen (Nonmalefizienz) und 
  • die Gerechtigkeit in der Verteilung von Gesundheitsleistungen.

Medizinethische Konflikte werden als Widerspruch – Ungleichgewicht – zwischen zwei Prinzipien dargestellt. Beispielsweise wenn die Autonomie des Patienten und seine Entscheidung für eine lebensverkürzende Maßnahme mit dem Schutz des Lebens (gehört zum Prinzip der Fürsorge) kollidiert. 

Die Prinzipien für das Leben wiegen schwer. Aber das Prinzip der Autonomie ist ein wichtiger Gegenpol. Therapeutinnen und Therapeuten, Ärztinnen und Ärzte stecken da in einem Dilemma.

Autonomie

Das Ziel sollte sein, die Autonomie des Patienten zu fördern. Besser: Ihn zur Autonomie zu befähigen

Dafür sind für die Patienten sicher zwei Informationen wichtig, über die wir eben gesprochen haben:

  1. Die Lebensqualität sinkt in der Regel nicht mit zunehmender Behinderung, auch wenn die Befürchtung naheliegt.
  2. Der Wunsch nach frühzeitiger Beendigung des Lebens bleibt in der Regel nicht bestehen.

Es geht nicht darum, Patienten zu einer Entscheidung in eine Richtung zu bewegen. Es geht darum sie in die Lage zu versetzen, eine autonome Entscheidung zu treffen. Ihnen zu erklären wie Entscheidungen getroffen werden, welche Faktoren eine Rolle spielen und welche Fragestellungen hilfreich sind. Je mehr die Patienten wissen, desto autonomer sind ihre Entscheidungen und desto gewichtiger ihre Autonomie. 

Die Patientenautonomie ist übrigens ein wichtiger Faktor, der bei der juristischen Bewertung von Sterbehilfe und in der gesellschaftlichen Diskussion darüber oft zu kurz kommt.

Die Frage nach der Ethik einer lebensverlängernden Maßnahme ist kompliziert, vor allem aber emotional. Es ist nicht mit einem „ich bin dafür“ oder „ich bin dagegen“ getan. Die individuellen ethischen und moralischen Vorstellungen spielen eine Rolle, die eigene Religiosität und viele weitere Faktoren. Sie alle erzeugen in uns – und in unseren Patienten – einen eigenen Entscheidungspfad. Unsere Aufgabe ist es, den Patienten ernst zu nehmen, ihm zu erklären dass das Spannungsfeld zwischen sozialer Bezogenheit und Selbstbestimmung existiert, aber beweglich ist. Es ist unsere Aufgabe, den Patienten zur Auseinandersetzung mit dem Thema zu motivieren. Das ist besser als mundmotorische Übungen  zu machen. 

Eine Patientenverfügung ist Pflicht, aber da eine Entscheidungsfindung eher ein Prozess ist, müssen die Patienten sie regelmäßig überdenken und erneuern. Sie müssen mit ihrem Umfeld darüber sprechen und die Angehörigen mit ins Boot holen. Das alles ist schmerzhaft. Das alle tut weh. Den Patienten, den Angehörigen und uns. ALS ist eine Bitch.


Quellen

  • Herkommer, Veronika (2016): Entscheidungen zum Lebensende bei Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose zwischen Selbstbestimmung und sozialer Bezogenheit. Open Access Repositorium der Universität Ulm. Dissertation. http://dx.doi.org/10.18725/OPARU-3753
  • Lulé, D. et al. Live and let die: existential decision processes in a fatal disease. J Neurol 261, 518–525 (2014).
  • Kühnlein, P. et al. Palliative care and circumstances of dying in German ALS patients using non‐invasive ventilation. Amyotrophic Lateral Sclerosis 9, 91–98 (2009).

One thought on “PEG & TK als lebensverlängernde Maßnahmen bei ALS-Patienten?

  1. Hallo Alexander,
    mein Mann arbeitet im SAPV Team ( spezialisierte ambulante palliative Versorgung). In diesen Fällen sollte wohl mit Palliativmedizinern und Palliativpflegern gearbeitet werden.
    Es gab wohl öfter Problematiken zwischen Logopäden und dem palliativen Gedanken.
    Viele Grüße Daniela

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert