Eine Dame – Baujahr 1921

Meine Patientin heute hat mich sehr beeindruckt. Am Abend hatte sie eine akute unflüssige Aphasie, wurde vom Notarzt zu uns in die Klinik gebracht und auf der Stroke Unit versorgt. Heute Mittag habe ich sie gesehen – logopädische Diagnostik.

Die Dame, 1921 geboren, lag in ihrem Bett, das Nachbarbett war leer und lächelte mich an.

Sprachlich konnte ich keine Auffälligkeiten mehr feststellen. Auch sonst konnten wir im Team der Dame bescheinigen, dass keine Folgen durch den Schlaganfall geblieben sind. Das ist gut, aber bewegt hat mich etwas anderes.

Oft passiert es, dass bei Patienten, die eigentlich keine logopädische Hilfe benötigen, der Erstkontakt länger dauert. Es ergeben sich Gespräche über das Geschehen, über die eigenen Eindrücke während des Schlaganfalls und über die Zukunft. So ein Schlag vor den Bug hinterlässt eben doch seine Spuren.

So war es auch bei der Dame. Es war ihr vierter Schlaganfall. In welchem Zeitraum sie aufgetreten sind, konnte sie nicht mehr erinnern, dabei sind ihr Zahlen sonst geläufig: ihr Mann ist vor 25 Jahren gestorben und ihre Kinder sind 60 und 61 Jahre alt. Der Sohn bereits im Vorruhestand.

„Ich kann mich nicht beklagen!“, sagt sie immer wieder – sie hätte auch keinen Grund, ergänzt sie. Aber eines liegt ihr doch schwer auf dem Herzen.

„Oft fühle ich mich allein.“ Wahrscheinlich der zentralste Satz in unserem Gespräch. Ihr Mann ist bereits tot und auf mein Nachfragen hin zählt sie all‘ ihre Freundinnen auf. Rommé hat sie gespielt oder mal Mensch ärgere dich nicht, Kaffeekränzchen waren Teil ihres Freizeitvergnügens, das alles mit Freundinnen und Nachbarn. Aber sie ist als einzige noch da. Alle anderen sind – vermehrt in den letzten Jahren – gestorben.

Mit 90 Jahren wird der Kreis der Lieben enger, hat man Freunde überlebt, wird man einsam.

Ein Zimmer weiter liegt ein Herr, 73 Jahre alt, seit elf Jahren in Rente und hat nur noch wenig Kontrolle über sich und seinen Körper. Er erzählt – unverständliches und wohl zusammenhangslos – und merkt es nicht. Demenz. „Er ist zufrieden, das ist schon lange so.“, sagt seine Frau, die neben ihm am Bett sitzt und Kreuzworträtsel löst. „Früher haben wir das zusammen gemacht“, erinnert sie sich. Heute kann er keinen Stift mehr halten.

Das Alter, älter werden, altern. Möge sich jeder selbst seine Gedanken dazu machen.

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