„Dann geh‘ ich mit!“

Gnadenhochzeit – was für ein Wort. Ich war versucht zu gratulieren, aber der 70. Jahrestag der Eheschließung meiner Patientin war schon ein paar Monate her. Genau genommen stand die Kronjuwelen-Hochzeit vor der Tür. Seit 80 Jahren ein Paar: Sie, 97 und Er über 100. Während ich sie behandelte konnte ich mich mit ihm unterhalten.

Was fragt man einen Menschen, der seit über 100 Jahren Erfahrungen und Erinnerungen sammelt?

Wenn man oft mit älteren Menschen zu tun hat, die therapeutische Hilfe benötigen, dann kennt man das: das Gedächtnis will nicht mehr so richtig, kognitive Leistungen nehmen ab, sehen und hören fallen schwer. Und irgendwie ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich mit einer entsprechenden Erwartungshaltung auf diese Menschen zugehe. Das ärgert mich – aber dieses Mal macht es mich traurig. Denn der Herr, der hier am Bett seiner Frau sitzt und ihre Hand hält, ist alles andere als dement. Er erzählt von der seiner Frau, wie sie war und auch viel von sich.

Vor Jahren ist seine Frau krank geworden und konnte nicht mehr aufstehen. Seither lebt sie in einem Pflegeheim während er immer noch in der gemeinsamen Wohnung wohnt, den Haushalt in Ordnung hält und sie jeden Tag mit dem Bus besuchen fährt. Sie dort betreut, hegt, pflegt, liebkost.

In der Klinik ist das nicht anders. Der Weg mit dem Bus wäre kürzer, scherzt er.

Aber es täuscht nicht darüber hinweg, er weiß dass die Zukunft nicht rosig aussieht. Er sieht, dass es seiner Frau schlechter geht und sie nur wenige Augenblicke wach ist.

Darum hält er ihre Hand.

An drei Tagen besuche ich ihn – behandle seine Frau. Und es kommt nur einmal vor, dass er sich wiederholt. Einmal nur scheint er vergessen zu haben, worüber wir uns am vorherigen Tag unterhielten. Ich muss mir selbst in Erinnerung rufen, dass der Ehemann meiner Patientin über 100 Jahre alt ist.

Von sich aus spricht er auch darüber, was unausweichlich zu sein scheint. Den Tod. „Wenn sie geht, gehe ich mit!“, seine Aussage ist sehr klar, reflektiert und ich glaube ihm.

Und darum habe ich meiner Patientin und ihrem Mann zur Gnadenhochzeit gratuliert. Ein ehrliches und respektvolles Herzlichen Glückwunsch!

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